Hier jetzt der Text des Süddeutsche Zeitung Artikels (danke Flo)
So kommen Fans beim "Boss" in die erste Reihe 20. Juli 2023, 13:39 UhrLesezeit: 4 min Bruce Springsteen in München: Der unverstellte Blick auf Stars, davon träumen viele Konzertgänger: Bruce Springsteen und Drummer Max Weinberg beim Konzert in Wien am 18. Juli.Detailansicht öffnen Der unverstellte Blick auf Stars, davon träumen viele Konzertgänger: Bruce Springsteen und Drummer Max Weinberg beim Konzert in Wien am 18. Juli. (Foto: Hans Klaus Techt/AFP) Wer beim Konzert im Olympiastadion in den vordersten Reihen stehen will, muss hartnäckig sein. Das von Fans für Fans organisierte System zeigt: Es kann auch korrekt zugehen im Rock-Business.
Von Rüdiger Sturm
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Feedback Drucken Hans-Jochen-Vogel-Platz am Olympiastadion, Mittwoch 15 Uhr. Vor dem Terrassenverdeck des Biergartens haben sich rund 20 Personen in einer Reihe aufgestellt, vor ihnen gibt eine junge Frau mit Baseballcap und Brille ein Kommando: "Ich nenne eure Nummern, und ihr sagt euren Namen."
Die Szene mag für Außenstehende skurril anmuten, aber sie kann für den Ablauf des Bruce-Springsteen-Konzerts am Sonntag mit entscheidend sein. Seit Montagabend kommen hier die Hardcore-Fans des Rock-Helden zusammen, die ein Wunsch vereint: bei seinem Auftritt möglichst weit vorne, wenn nicht in der ersten Reihe zu stehen.
Von acht bis 22 Uhr werden hier Nummern ausgegeben, die festlegen sollen, in welcher Reihenfolge die Beteiligten das Stadion betreten - vorausgesetzt, sie haben ein sogenanntes FOS1-Ticket, das den Zugang zur vordersten Sektion der Stehplätze ermöglicht. Dreimal am Tag kehren die Unentwegten zum Treffpunkt zurück und bestätigen ihre Nummern beim Zählappell beziehungsweise "Roll Call". Wer nicht kommt, fällt aus der Liste. Während in den ersten Tagen die Gruppe noch überschaubar ist, werden sich schlussendlich mehrere Hundert Besucher ihre Nummern abgeholt haben.
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Hier greift indes keine offizielle Maschinerie - sondern eine "Von Fans für Fans"-Lösung, wie sie seit mehr als zehn Jahren in unzähligen Konzerten zum Einsatz kommt. Die Organisatoren ziehen keinerlei finanziellen Nutzen für sich heraus. Sie sichern sich die ersten Nummern, die in der Regel mit Filzstift aufs Handgelenk geschrieben werden. Dieses Prinzip findet sich nicht exklusiv bei Springsteen, ist hier aber besonders ausgeprägt. Dank seiner Mischung aus Rock' n' Roll und tief reflektierter Lebensphilosophie genießt der 73 Jahre alte Musiker eine besonders kultische Verehrung. Rosa aus dem Raum Hannover (bislang 16 Konzerte), die die Münchner Appelle mit organisiert, erinnert sich: "1993 beim Konzert in Mannheim hat Bruce meine Hand gehalten, seither bin ich tiefster Fan."
Doch das bedeutet Aufwand: "Du hast eine große Verantwortung, wenn du für rund 3000 Besucher zuständig bist", so Ruth Wagner-Krunic aus Innsbruck (gut 100 Konzerte), die mit Gleichgesinnten schon verschiedene "Roll Calls", darunter in Rom, auf die Beine stellte. Denn die Zuständigen müssen für die Vergabe für Nummern mehrere Stunden pro Tag präsent sein, teilweise eine ganze Woche lang.
"Das fühlt sich manchmal wie eine Gruppentherapie an" Trotz der Strapazen wollen sie die Erfahrung nicht missen. Mary aus Kiel (etwa 47 Konzerte), ein Mitglied des kleinen Münchner Teams: "Du verbringst sehr viel Zeit mit Leuten, mit denen du intensivere Gespräche als mit deinen Freunden zuhause führen kannst. Das fühlt sich manchmal wie eine Gruppentherapie an. Von jeder Tour nehme ich etwas mit, was mir etwas für die Entwicklung meines Charakters bringt." Ihr Mann Andi (sieben Konzerte) ergänzt: "Hier lernst du so viele unterschiedliche Charaktere kennen. Beim Konzert in Göteborg zum Beispiel standen Fans aus Guatemala vor dir. Keiner ist in irgendwelche Hierarchien eingezwängt, jeder ist auf der gleichen Ebene. Einen Tag mit dieser Community zu verbringen, ist besser als 30 Tage Urlaub."
Das deckt sich auch mit Rosas Erfahrungen: "Beim Publikum spielen weder Geld noch Ansehen noch Kleidung eine Rolle. Alle haben ein gemeinsames Ziel." Die Münchnerin Saali (rund 27 Konzerte), die Kommandogeberin beim Mittwochsappell, hebt die "engen Freundschaften" hervor, die aus den Roll-Calls entstanden sind und meint: "Ich gebe dafür gerne meinen ganzen Jahresurlaub her." Eine Entscheidung, die sie mit ihren Mitstreitern von München gemeinsam hat, die für die aktuelle Tournee schon quer durch Europa gereist sind.
Herrschen also im Springsteen-Reich eitel Freude und Sonnenschein? Die enthusiastische Begeisterung fördert auch Hysterien und Rivalitäten. Nicht alle Roll Calls laufen so harmonisch wie in München ab. Es kann zu Streitigkeiten kommen, etwa wenn konkurrierende Fans eine zweite Liste mit alternativen Nummern aufstellen. Und die Ticketbesitzer, die keine Nummern ergattern, lehnen sich mitunter gegen das Zählsystem auf - etwa diesen Mai in Rom.
Die "Roll Calls" haben einen nachweislichen Nutzen für die Veranstalter Allerdings sind die Roll Calls nicht einfach aus einem Spleen der Über-Fans geboren. Sie haben einen nachweislichen Nutzen für die Veranstalter. Dafür ist es nur wichtig, dass die Security-Mitarbeiter der Veranstaltungsstätten mitspielen. Denn die geregelte Reihenfolge verhindert beim Einlass ins Stadion die wilden Massenanstürme von früher, bei denen Unfälle an der Tagesordnung waren. Die Inhaber der Nummern dürfen nur gemessenen Schrittes eintreten - ein wenig wie Gladiatoren in die Arena. Wer einen Sprint einlegen will, wird nach hinten verbannt.
All das könnte nicht ohne die Unterstützung des Springsteen-Lagers funktionieren. Der Spiritus Rector des Ganzen ist ein durchtrainierter und tätowierter Vollbart-Träger namens Graham, seines Zeichens Security-Chef der Europa-Tournee. Er sucht vor den Konzerten den Kontakt zu den Fan-Organisatoren - meist indem er auf seinem Fahrrad über das Veranstaltungsgelände fährt - und bespricht das Vorgehen.
Ein Szenario, das bei Springsteen ausgeschlossen sein dürfte, ist die "Row Zero" à la Rammstein. Das zeigt sich schon allein darin, dass etliche Männer mittleren Alters statt vorsortierter junger Frauen in der vordersten Reihe stehen. Während die Praktiken von Lindemann & Company seit langem ein offenes Geheimnis in der Fanszene waren, gibt es beim "Boss" keine derartigen Gerüchte.
Allerdings hat die basisdemokratische Ausrichtung der Roll Calls auch ihre Grenzen. Das wurde beim Eröffnungskonzert der diesjährigen Europatournee in Barcelona offensichtlich. Denn im Nebentrakt der Bühne feierten zwei Fans, die dafür keine Abzähl-Orgien durchstehen mussten: Ein Barack Obama und ein Steven Spielberg bekommen eben doch eine Sonderbehandlung.
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